Familien Reise Abenteuer


EurAsien 2012-2014 - Schweiz

Schnee & Mut für eine Herzentscheidung

Simon Südtiroler, ich norddeutsch.

Wie wär die Schweiz als „goldene Mitte“?

Schauen wir sie genauer an!

 

Anfang Januar fahren wir in den tiefsten Winter ein, und das als Wohnmobil-Bewohner.

Wenn schon Schneckenhaus, dann richtig. Schließlich hat Simon super isoliert. Und nicht nur Gasheizung, auch Holzofen heizt prächtig (für den Extremfall ist die Dieselheizung auch noch da).

 

On the road…

 

Einmal um den Züricher See, bis ans schweizerische Bodenseeufer, rein ins Appenzeller Land bis hoch zur Schwägalp, wo die Gondel zum Säntis abfährt.

Die Nacht in der tiefweißen, stillen Schneewelt bringt uns morgens fleißiges Freischippvergnügen. Von Chur aus erkunden wir die Gegend bis westlich ins Emmental. In Burgdorf`s alter Burg legt Noah die schwere Ritterrüstung an und nimmt im Rittersaal Platz.

Zurück in die Zürcher Gegend. Das Dorf Rikon wirkt… tibetisch!? Die Gaststätten werben statt mit traditionell Schweizer Kost mit tibetischen Momos. An der anderen Straßenseite steht ein tibetisch aussehender Mönch in Kutte und trampt. Bald haben wir die Lösung, groß ist das Dorf nicht. Dem Straßenschild „Tibetinstitut“ folgen wir. Bis zu einem tibetischen Kloster mitten im Wald. Es erinnert an den Pottalapalast in Lhasa. Gebetsfahnen hängen in den Ästen. Der Dalai Lama hat diesen Ort hier aufbauen lassen für Exiltibetermönche.

Unterwegs finden wir immer wieder bunte Bauwägen und Biohöfe. Wir halten an, suchen eine Bleibe … aber es gibt kein Plätzchen für unseren Bus. Verschiedene Gesetze erschweren das Wohnen im motorisierten Wagen. Anhänger oder

Bauwagen kein Problem. Aber längere Zeit im motorisierten Wagen leben dürfen geht nicht ohne weiteres.

Züri

 

Also zurück nach Zürich-City. Die Vielfalt hier macht`s uns Neuankömmlingen einfacher. Und alle drei Bekannten,

die wir in der Schweiz haben, leben hier.

Erstmal ist der Züricher Campingplatz direkt am See die sinnvollste Lösung. Im Winter gibt es Spezialpreise für die besonders Harten, leistbar auch für Nicht-Schweizer.


Die Infrastruktur des Platzes erleichtert besonders im Winter: Wasserversorgung, Abwasser- und Toilettenentsorgung.

Ewige Minusgrade werden zur neuen Herausforderung. Unsere Tanks frieren regelmäßig ein: Frischwasser, Abwasser, Toilettentank, sogar das flüssige Gas im Gastank. Morgens fließt oft nur ein dünner Wasserstrahl aus dem Hahn. Zum Glück haben wir einen zweiten Wasserkreislauf mit kleinerem Volumen innerhalb des Busses. Nässe und Matschklamotten sind Dauerbegleiter. Dadurch wird`s eng im Bus, das Trocknen dauert. Der Winter hat es in sich und hält uns gut auf Trab. Es soll seit Jahrzehnten der Kälteste sein. Unser Ofen heizt ununterbrochen.

 

Die Feuerholzpreise in der Schweiz sind der Wahnsinn! Wir müssen gut vorsorgen. Manchmal fahren wir nach Deutschland, da kaufen wir den halben „Buskeller“ voll Baumarkt-Holz ein. In der Schweiz bekommen wir es niemals so günstig. Wenn wir zu wenig Holz haben, werden wir 20 Franken für einen 5 Kilo-Tankstellenpack wieder los.

 

Der ungewohnte Anblick bei Eiseskälte und Schnee eine Familie im kleinen Bus hocken zu sehen bringt uns ständig Wohnungsangebote. Aber wir wollen im Bus bleiben. Drinnen ist es warm, nur die Versorgung ist fordernd. Wir sind

nicht die Einzigen auf dem Campingplatz. Auch nicht die einzige Familie.

Warum wir das machen? Wir wählen bewusst Einfachheit, Naturnähe und mit Herausforderungen umzugehen, statt Luxus und dem scheinbar Selbstverständlichen zu frönen.

Wie geht es Noah damit? Für ihn ist das ganz normal. Er legt nicht viel Wert darauf Statussymbole zu leben, Naturnähe macht ihn sehr zufrieden. Der (Winter)matsch ist sowieso sein Element - wir Eltern gehen durch unsere beste Trainingszeit für einen entspannten Umgang damit.

 

Noah töpfert beim Familienzentrum um die Ecke. Wir bauen Kontakte auf, Noah trifft andere Kinder. Die Superauswahl der Bücherei macht uns ganz beschäftigt.

Die Menschen heißen uns willkommen, wir sind schnell integriert.

Simon hat Lust wieder zu zeichnen und findet ein witziges Team und entspanntes Betriebsklima. Bei den Preisen kommt uns das recht, wir fühlen uns wohl in diesem Land, können uns vorstellen zu bleiben.

Und Noah im Kindergarten anmelden? Nach einigen Ämtergängen kann er losschnuppern.

Morgens in der Früh laufen wir vom Seeufer knapp 300 Stufen hoch, durch den Park zum „Chindi“. Den Schweizer Dialekt hat er schnell drauf. Hausschuhe heißen „Finken“, das Signalband im Straßenverkehr ist das „Bändli“. Mit den

Kindern kommt er gut in Kontakt, nur mit dem frühen Aufstehen ist das so eine Sache.

 

Die Hebammenlandschaft der Schweiz zeigt sich mit vielen Stellenangeboten offen. Für die freiberufliche Arbeit sind die Voraussetzungen anders als in Deutschland. Ich schnupper im Gebärsaal, in dem auch komplementärmedizinisch gearbeitet wird. Eine Kollegin begrüßt mich. „Hallo! Ich bin Anne aus Norddeutschland, Nähe Bremen.“ „Hey, wow. Ich bin auch Anne aus Norddeutschland aus der Nähe von Bremen.“ Das kann ja nur passen!

Ein aufgeschlossenes Team. Klinikarbeit, wie ich sie mir bisher wünschte, aber nie so erlebt habe. Ich bin gern da. Es ist einfach ein ganz nettes Miteinander. Nur mit dem Schwyzer Dütsch hapert`s bei mir - ich bin nicht dafür geboren sofort Dialekte zu verstehen. Damals als ich Simons Familie in Südtirol kennen lernte, verstand ich lange kein Wort. Das Schweizer „schmecken“ find ich genial: „Heute Morgen hat mein Urin komisch geschmeckt.“ „Mmmh. Das Massageöl schmeckt gut.“ Mein Grinsen werd ich nicht los.

Land-WG in ehemaliger Lederfabrik

 

Gegen Ende des Winters sagen wir dem Campingplatz Lebewohl. Somit auch Zürich, das wir zwar sehr mögen, aber auf

Dauer möchten wir mit Kind aufs Land. Wir ziehen in ein großes Zimmer einer Wohngemeinschaft im Landhaus. Nach den Winterwochen im Bus brauchen wir im Arbeitsalltag Dinge um uns, die erleichtern und komfortabler machen: Allen voran Platz und eine Waschmaschine, auch eine automatische Wärmequelle wie Heizung, Badewanne, Dusche. Das hohe, alte Haus mit mehreren Stockwerken war vor vielen Jahrzehnten eine Lederfabrik. Noah erforscht die alten, ächzenden Maschinen und findet Massen gut erhaltene Lederrollen, die einige Jahrzehnte alt sind. Der mittlere Stock, ein langer Flur mit mehreren Zimmern, wird vermietet.

Unsere Zimmernachbarn kommen aus Ägypten, Somalia und Marokko. Von früh bis spät duftet es lecker aus der Küche. Simon bekommt marokkanisches Lammfleisch gekocht. Anfangs wohnt mit uns ein französisch sprechender Schweizer, der Hanfkonsum auf Rezept verschrieben bekommt, sowas gibt`s in einigen Schweizer Kantonen. Später gesellen sich ein Slowake und ein muskulöser, afrikanischer Soccerspieler, der sich bereits morgens mit Riesenmengen deftigen Fleischgerichten versorgt, zu uns.

 

Während Umzug, Neuorientierung und zwei neuen Jobs schicken wir Noah in den jährlichen Osterurlaub mit Oma und Opa nach Bayern. Von da aus nehmen sie Noah einige Zeit mit in den Norden, wo wir auch vorher wohnten.

 

Wir vermissen unser Kind. Seine Zeit bei Oma und Opa ist toll, er hat mit seinen Freunden so viel zu tun, dass er uns kaum vermisst.

 

Dann – endlich - rennt er uns lachend am Bahnhof in die Arme.

 

Weiter läuft es prima. Noah findet im Haus einen guten Freund, mit dem er die Gegend unsicher macht, „Velo“- Wettrennen fährt, Frühlingswiesen kreuz und quer durchstreift...

Einsicht

 

Eigentlich geht alles gut. Aber uns fehlt was.

 

Uns fehlt das, was wir erlebt hatten, dieses halbe Jahr unterwegs.

Die Zeit. Die Zeit zusammen.

 

Die wir uns freigeschaufelt hatten, um Familienzeit zu haben, zu reisen, um Orte kennen zu lernen, die uns interessieren, …. um doch so bald wieder im Arbeitstrott zu versacken?

 

Wir müssen innehalten.

 

Gute Arbeitsstellen, echt nettes Betriebsklima, sicheres Einkommen in unbefristeten Stellen.

 

Aber… In der näheren Umgebung lacht uns kein Ort an, der uns wirklich zum Bleiben gefällt. Teure Preise, Auflagen,

Bürokratie lassen uns grübeln.

 

 

Sollen wir den Mut haben, das alles wieder zu stoppen, was wir aufgebaut haben?

„Ja.“

Ja?

 

Der Kopf sagt was vollkommen anderes.

Der Kopf sagt: „Hier haben wir ein Leben mit hohem Lebensstandard. Eine Familie braucht Sicherheit, Ruhe, Klarheit, einen Plan. Es wäre totaler Quatsch die ganze Mühe, sich hier einzufinden, umsonst getan zu haben.“

 

„Nein, es hat sich gelohnt. Das sind Erfahrungen. Es darf auch anders weitergehen. Warum nicht vertrauen, dass das Richtige kommt? Mut zum Loslassen und für unübliche Wege. Muss ja nicht schlecht sein. Man sollte sich erfüllt fühlen von dem, was man tut und wie man lebt. “ Sagt die Herzkraft. Wenn die was sagt, steckt da Power hinter.

 

Wir beide kündigen unsere Stellen – schwer fällt uns das, aber unsere Entscheidung fühlt sich richtig an.

 

Lust, wieder etwas Neues aufzubauen?

Nein, gerade nicht.

 

Aber unserem Nomadenblut können wir nachgeben.

 

Uns steht alles offen.

Wir sind verrückt.

Hinaus in die Welt.

Mit Babybauch. Ja, genau.

 

Unser Bauchbaby hat auch mitbestimmt, warum wir die Schweiz verlassen. Wie bei Noah wenige Monate nach seiner Geburt in Arbeit abzutauchen kommt mir beim zweiten Kind nicht in die Tüte. Dieses Mal möchte ich als Mama Zeit haben, mein Kind zu begleiten. In der Schweiz ist der Mutterschutz wesentlich kürzer als in Deutschland.

 

Es ist Sommer. Wir lieben unseren Bus, das Reisen und Draußen sein.

Das eine Kind ist fünf, das andere im Bauch.

 

Beste Zeit, die Räder rollen zu lassen!


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