Es ist Frühjahr 2002 in der Stadt Madurai.
Südindische Mittagshitze steht über dem vollen, chaotischen Busbahnhof, auf dem ich aussteige.
Am Rand des Gewimmels stelle ich den Rucksack ab. Erstmal einen Eindruck verschaffen.
Keine Ahnung, welcher der unzähligen Busse weiter in meine Wunschrichtung fährt.
Die Busse fahren an, halten, hupen. Menschen kommen und gehen, dichtgedrängt. Es ist laut.
Der Geruch von Abgasen und auch den offenen Feuern, die in der Nähe am Straßenrand brennen, steigt mir in die Nase. Und Schweiß.
Eine Ambition, mich jetzt bei den Indern nach meinem Anschlussbus durchzufragen, verspür ich nicht. In Indien weiß man nie so richtig, ob die Antwort stimmt – ob nur freundlicherweise etwas gesagt wird oder was genau das knappe Kopfgewackel meines Gegenübers gerade bedeutet. Die Sonne knallt.
Da, am anderen Ende des Platzes, ist das nicht ein hellhäutiger Rucksacktourist?
Zielstrebig schnapp ich den Rucksack. Ab durch die Masse von Menschen und Bussen!
Meine Hoffnung, dass ich auf Englisch klar und schnell eine Antwort bezüglich meiner Weiterreise bekomme, ist groß.
Glück gehabt! Witzigerweise kommen wir beide von dem Ort, der das Ziel des anderen ist.
Der charmante Kerl begleitet mich zu meinem Bus. Durch das offene Busfenster tauschen wir uns noch über unsere Zielorte aus. Wo der Rastahaarige ursprünglich herstammt, verstehe ich nicht. Er sagt irgendwas von Schweiz, Italien und „Cityroller“. Aber mein fährt Bus los.
„Cityroller“, grüble ich, was bedeutet das? Ein „Von-Stadt-zu-Stadt-Reisender“???
Andere Orte
Bisher verbrachte ich Wochen bei einem Freiwilligenprojekt mit indischen Ureinwohnern, den Adivasi.
Malariarisiko und mein Status der einzig westlichen, weißhäutigen Person brachten mich zu einem verfrühten Aufbruch. Tief in den Bergen des Bundesstaates Orissas lernte ich Gesundheitsvorsorge, Bildung und das Schaffen von Unabhängigkeit für die indigene Bevölkerung schätzen. Oft war ich mit einem indischen Arzt unterwegs, mit dem ich relativ gut auf Englisch kommunizieren konnte. Mit meinen zwanzig Jahren sehnte ich mich nach Austausch über das Erfahrene, Gesehene, Erlebte.
Nun ist mein Ziel, Touristenorte zu besuchen und einen anderen Freiwilligendienst zu finden, der nicht so ganz „weit
weg von allem“ ist.
Zum Glück lerne ich bei Bangalore schnell eine Gemeinschaft kennen, in der beeinträchtige und nichtbeeinträchtigte Menschen leben, zusammen mit Helfern aus aller Welt. In einigen Monaten kann ich starten.
Bis dahin geht’s auf Rucksackreise… Südindien. Nordindien. Nepal.
In Varkala, einem ruhigen südindisch-westlichen Dörfchen am Meer, sind wenig Touristen. Die Hitze macht durstig. Leckeren Chai in kleinen Tonbechern gibt`s in der Hauptgasse. Hin da! „Hey, dich kenne ich doch!“, ruft eine männliche Stimme. Was? Wer? Der „Cityroller“ vom Busbahnhof steht vor mir!
Gerade ist er mit Sack und Pack im Dorf angekommen.
Wohnen tun wir jetzt fast nebeneinander, aber schüchtern gehen wir die nächsten Tage miteinander um und gehen jeder eigene Wege. Des „Cityroller“- Rätsels Lösung ist übrigens einfach: In seinem starken Dialekt klingt „Südtiroler“ eben wie „Cityroller“.
Dieser Mensch ist interessant. Aber ich bleib bei meinem Vorhaben, Zeit für mich zu nehmen. Weiter führt`s mich in den strengen Alltag eines weltbekannten Yogaashrams. Für den langen Kurs bleibe ich aber nicht, mich zieht es weiter.
Auroville
Wochen später in Auroville, bei der Stadt Pondicherry an der südlichen Ostküste Indiens .
Dieser indisch-westlich angehauchte Ort einer spirituellen Gemeinschaft ist ideal für meine Auskurierung einer akuten Magendarmerkrankung. Wieder relativ fit, besuche ich den Produkteladen Aurovilles mit Allerhand aus eigenem Handwerk: Blankobücher aus Naturmaterialien, Räucherstäbchen, Spirulina... Kurz blicke ich auf zu der Person, die neben mir steht und auch schaut. Das Seitenprofil kommt mir doch bekannt vor… „Hey! Bist du nicht…?“
Unser drittes Treffen.
Jetzt lernen wir uns aber kennen. Mit dem Mofa pesen wir über rote, staubige Sandpisten, besuchen Konzerte traditionell indischer Musik, lernen Yoga, meditieren, schwimmen im Meer, besuchen Hindu-Tempel, und ziehen Wochen später in eine Bambushütte im Wald.
Die Meditationsstätte "Matrimandir", liegt im Mittelpunkt Aurovilles. Ein groß angelegter Garten umgibt die goldene Kugel, in deren Inneren sich ein in weiß gehaltener Meditationsraum mit riesigem Kristall befindet, der das von oben einstrahlende Sonnenlicht im Raum reflektiert. Vor dem Matrimandir wächst ein großer Banyanbaum.
Am späten Abend im Dunkeln lässt uns der Nachtwächter des Gartens passieren. Stundenlang bleiben wir unter dem Banyan mit seinen hängenden Luftwurzeln. Abend für Abend geht das so. Wir reden und schweigen. Wir lauschen dem Wind in den Blättern. Wir sind einfach still da oder wir erzählen uns. Und dann stellen wir fest, dass der andere die Antwort sagt zu dem, was der eine sich gerade in Gedanken fragt.
Am nächsten Morgen, ganz in der Früh, sitze ich meditierend im Matrimandir und spüre, erlebe, weiß, dass es noch
etwas anderes gibt als meine gewohnte Realität. Dieser Ort bringt mir magische Augenblicke, auch vorher hatte ich in Indien Ähnliches erlebt.
Aber wie jede, geht auch diese Zeit vorbei.
Ich möchte in den Norden. Nochmal zu den Adivasi. Dann Himalaya und Nepal, dort ein neues Indienvisum beantragen.
Am Abend vor meiner Abreise springen wir ins vollmondbeleuchtete Wasser.
Bis jetzt waren wir uns nicht näher gekommen, aber der Abschied macht bewusst, was wir uns bedeuten.
Himalaya
Selbst das extrem laute Knattern des Zuges holt mich nicht aus meinen Gedanken: Er ist geblieben.
Seinen Indienbesuch hatte er nur im Süden geplant. Der Abschied war schwer.
Was war das zwischen uns? Werden wir uns wieder sehen?
Hin- und hergerissen erkunde ich weiter das Land.
Wochen später in einem kleinen Bergdorf im Himalaya entdecke ich glücklich im Posteingang eine neue Mail von ihm. Das Öffnen der Email dauert, der Seitenaufbau braucht ewig. Indien halt…
„Ich weiß, dass ich dieses Land nicht verlassen kann, ohne dem schönsten Traveller Indiens nochmal in die blauen
Augen zu schauen. Ich bin auf dem Weg zu dir. Es wird einige Tage dauern.“
Mein Herz rutscht in die Hose. Wow!
Wirklich steht er Tage später erschöpft vom tagelangen Bahn- und Busfahren quer durch Indien vor meiner Berghütte.
Jetzt haben wir Zeit. Die Bergwelt ist nochmal was ganz anderes als südindische Hitze. Sie ist voll unser Element!
Gemeinsam ziehen wir auch weiter, bleiben am Ganges in Varanasi, in der Freak Street in Kathmandu.
Zielen dann in die Richtung des Mount Everest Basecamps.
Und bald ruft mich die Freiwilligenarbeit nach Südindien.
Aber Zeit für eine Trekkingtour haben wir.
Wir laufen von einem Dorf, Endstation des Busses zum nächsten Halt des Busses zurück. Eine handgemalte Karte der Nepalesen haben wir dabei, genauso wie eine Handtasche mit Wasser, Traubenzucker, Kleidung und ein wenig Erste-Hilfe-Zeug.
Er wandert in kurzen Hosen vor mir bergauf. „Oh…Du blutest ja am Bein! Es läuft schon runter!“
Ich schau genauer hin. Tatsächlich sitzt da ein Blutegel! Überall entdecken wir sie, sie winken uns von den Grashalmen zu. Also alle zehn Minuten Blutegelcheck!
Der Wald ist dicht, riesengroße Rhododendren wachsen hier. Wir folgen einem kleinen Trampelpfad und dem nächsten. Aber sie enden im Nichts. Wir haben uns verlaufen. Die Sonne geht immer tiefer.
„Hast du das gehört? Da sind Stimmen, da hinten!“ Zügig schlagen wir unseren Weg durch den Wald in ihre Richtung und machen durch Rufen auf uns aufmerksam. Es sind Waldarbeiter aus einem kleinen Bergdorf, die gerade
zusammenräumen. Wir machen uns verständlich, uns bitte in ihr Dorf mitzunehmen. Schnell geübten Schrittes gehen sie über kleine Pfade zu ihrem Dorf. Ich muss hinterher rennen. Bin völlig außer Puste, aber das gilt gerade nicht.
Endlich im Dorf, dürfen wir bei einer Familie nächtigen. Eine Matte wird für uns auf die Terrasse an die überdachte Hauswand gelegt. Sie geben uns salzigen Buttertee zu trinken und kochen uns Kartoffeln. Nachts gießt es. Zum Frühstück gibt es salzigen Buttertee in Kombination mit purem groben Gerstenmehl (Tsampa).
Zum Glück gibt es ab diesem Dorf einen sichtbaren Weg, der sich durch nächste schöne Bergdörfer schlängelt. Dem sollen wir folgen. Steil hoch, runter, hoch, runter. Schmale, wackelige Hängebrücken führen über reißende Himalayaströme – da führt für uns kein Weg dran vorbei.
Dieses Erlebnis – die Anstrengung lässt uns an Grenzen stoßen- schweißt uns zusammen.
Bevor wir uns wieder trennen - örtlich.
Von Kathmandu aus fliege ich in den indischen Süden. Sein Weg führt nach Italien.
Aber unsere nächste Verabredung steht: In einem halben Jahr, wenn meine Arbeit vorbei ist und er in Italien Geld gespart hat, soll unsere Reise weiter gehen.
Wir werden uns in Nepal treffen. Dann: Tibet, China, Transsibirien. Überland die Heimat erreichen.
Mit seinem Motorrad. Er kommt mit dem Motorrad über Land angereist.
5 Monate später
Fünf Monate sind vergangen. Mittlerweile fühl ich mich fast heimisch in Südindien. Aber ich freue mich riesig auf ihn! Und auf die Weiterreise. In nur wenigen Tagen fährt er in Italien los.
Heute ist Tempelfest nebenan.
Eine große Puja-Zeremonie, bunte Dekoration, Frauen tragen ihre besten Saris und ihre Haare sind mit Blumenketten geschmückt. Räucherduft liegt in der Luft. Der 90jährige Priester steht mit voll beladenen Opferschalen in den Händen aus dem Schneidersitz auf und klingt mit anderen zum Mantra an.
Inmitten der Feiernden sitzend, werde ich auf die Schulter getickt.
“There`s a phonecall for you!”
Ruhig stehe ich auf, um die Zeremonie nicht zu stören.
„Who is it?“, frage ich.
„A woman from Italy… There was an accident.”
Während ich zum Telefon im Nachbarhaus laufe, hämmert die ganze Zeit „Accident“ in meinem Kopf.
Meine Füße tragen mich, das Laufen lässt nicht viele Gedanken zu.
Warum ruft mich eine Frau aus Italien an? Mein Herz klopft.
Der Telefonhörer liegt auf dem Schreibtisch.
„Hello?“
Die Frau stellt sich als seine Mutter vor.
„Er hatte einen Motorradunfall. “
In dunkler Regennacht stand ein unbeleuchteter Lastwagen quer auf der Straße.
Mit 80 Km/h knallte er ungebremst aus freier Fahrt hinein.
Und nach den high clouds geht die Geschichte weiter.
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Elena (Montag, 01 Mai 2023 08:46)
Diese/Eure tolle Geschichte habe ich mit ganzem Herzen gelesen. Es ist definitiv ein besonderes Kennenlernen!!!! Dies Besondere lebt in euch weiter!
Ach, und auf eine ähnlich Art und Weise habe ich dich - Anne- auch kennengelernt. Nach der dritten Begegnung in Frankreich in Moubisson am See, waren beide in der Kindheit mit unseren Eltern jedes Jahr an diesem Urlaubsort, hat unsere tolle Freundschaft zunächst mit Briefen begonnen. Dafür bin ich sehr dankbar!
Anne-Silja (Samstag, 06 Juli 2024 19:40)
Danke, du Liebe!
Fürs Lesen dieser Geschichte und das Lesen und Schreiben der Briefe, die uns schon sooo lange teilhaben lassen am Leben des anderen!
Ich bin auch sehr dankbar für dich!